Einladung zum Gedankenausflug und gemeinsamen Schreiben über Vergebung und die Frage, wieviel Kraft es kostet, nicht zu verzeihen
Beitrag 1 von Ildikó von Kürthy
Schreiben wir gemeinsam! Über Vergebung.
Vergebung ist eine Gabe im doppelten Wortsinne. Vergebung ist ein Geschenk und ein Talent. Wer vergibt beschenkt sich selbst und denjenigen, der einem Unrecht getan hat. Vergebung befreit von Groll und Rachegelüsten, sie dient der eigenen Seelenhygiene und entbindet den anderen von Schuldgefühlen und schlechtem Gewissen. Das Hohelied des Verzeihens singt sich so leicht wie das Hohelied der Liebe und alle singen mit. Wer verzeiht, der hat nichts falsch gemacht, handelt zutiefst menschlich und hat seinen Platz im Himmel schon mal sicher. Und wer nicht verzeihen kann, der hat definitiv ein Problem. Aber: Stimmt das eigentlich? Kann es nicht auch ein Akt der Selbstachtung sein, nicht zu verzeihen? Verschwimmt durch Vergebung die Grenze zwischen Recht und Unrecht? Darf man manchmal nicht verzeihen, um weiteres Unrecht zu vermeiden? Geht Vergebung auf Kosten der Gerechtigkeit? Was kann ich nicht vergeben – womöglich zurecht?
Beitrag 2
Autor: Doris Günther
Liebe Ildikó!
Zum Thema Verzeihen fällt mir noch etwas ein. Verzeihen bedeutet für mich, ein Thema so sehr loslassen zu können, dass ich komplett frei von körperlichen Unruhezuständen bin, wenn ich wieder damit konfrontiert werde bwz. daran denke. Daher kann ich auch nicht gut auf Knopfdruck verzeihen, sondern muss warten, bis sich dieses Gefühl von selbst einstellt. Oft merke ich dann: „Oh, ich habe ja verziehen!“ Ich würde sagen, verzeihen kann ich nicht willentlich, sondern verzeihen passiert - oder auch nicht.
Im letzten Jahr hatte ich es beruflich mit einem Gauner zu tun. Es ist mir wirklich unangenehm, zugeben zu müssen, dass ich mich in seinen mir schmeichelnden Bann ziehen ließ und nicht meinem Bauchgefühl gefolgt bin. Mein kleiner Trost ist, dass ich in bester Gesellschaft bin. Nicht nur ich bin in sein Fettnäpchen - besser gesagt Gelnäpfchen (in sarkastischer Anlehnung an sein kennzeichnendes Haupthaar) getreten.
Lange Rede, kurzer Sinn: unsere Wege haben sich getrennt und für Leistungen, die ich im Namen seiner Firma erbracht habe, behält er mein Honorar ein.
Abgesehen von dem finanziellen Schaden, bringt eine derartige Verhaltensweise mein Blut inklusive meiner Emotionen in gefährliche Wallung. Auf Aufforderungen meines Anwaltes hat er nicht reagiert. Möglicherweise ist er in seinen Geltopf gefallen und klebt darin jetzt fest?
Das ganze vor’s Gericht zu bringen hätte Begleiterscheinungen gehabt, auf die ich gar keine Lust hatte. Bis hin zu der Frage, ob seine Firma fähig sein würde, mein Honorar zu begleichen.
Klagen oder nicht klagen?
Ich lag im Bett und konnte nicht schlafen, weil mich diese offene Entscheidung doch quälte und auch der Gedanke, dass Lügenmenschen wir er einer ist, immer wieder ungeschoren davon kommen, stimmte mich nicht friedlicher.
Apropos ungeschoren. Die Vorstellung, ihm während seiner nächten Zen-Meditation, die er aus marketingstrategischen Gründen gerne in den sozialen Medien postet, mit der Rasierklinge ein paar schöne Bahnen in sein Haupthaar zu ziehen, brachte ein bisschen Vergnügen in meine Nacht.
Trotzdem: ich war weit entfernt von meiner Mitte. So wollte ich mich nicht fühlen und so hatte ich auch keine Energie für die Dinge, die auf meinem Horizont stehen. Meine Gedanken drehten sich um Ungerechtigkeit, den Gauner, das Geld, Rasierklingen, Geltöpfe, Anwälte, Richter und so weiter.
Ich lag also noch immer im Bett und mir fiel ein, meine Eigenschwingung zu befragen, was sie denn gerne möchte. Sie antwortete mir prompt und meinte: sie will sich ausdehnen, gestalten, schreiben, mit netten Menschen arbeiten, mit unseren Kindern Spaß haben und sie möchte lieben.
Ihr sei es auch völlig egal, ob die Sache gerecht oder ungerecht sei, denn was auf der Welt ist das schon? Vielleicht ist es so, dass ich nur deshalb so ein schönes Leben führen kann, weil jemand anderer, irgendwo, irgendwann viel weniger bekommen hat, als er empfangen hätte sollen? Wer weiß das schon?
In mir wurde es wieder ruhiger. Der Gauner verblasste und ich stellte fest, Energie in Streitigkeiten mit ihm zu investieren hat nichts mit dem Leben zu tun, das ich führen will.
Möge er geschoren oder ungeschoren davonkommen und möge mein Geld auf Umwegen jenen zufliessen, für die es bestimmt ist. Er wird daran keine Freude haben, davon bin ich überzeugt. Denn ergaunertes Geld und Lügen machen keinen Spaß.
So weit, dass ich ihn in Licht und Liebe hülle, bin ich noch nicht. Bilder, die ihn zeigen, wie er kopfüber in seinem Geltopf feststeckt, zaubern mir bisweilen schon ein Lächeln ins Gesicht. Damit kann ich leben - ich muss ja nicht unbedingt heilig gesprochen werden. Ob ich ihm jemals verziehen haben werde? Ich lass mich überraschen!
Liebste Grüße!
Kommentar von Ildikó von Kürthy
Liebe Doris,,
also ich kriege alleine schon beim Lesen Rachegefühle diesem Typen gegenüber! Wenn ich den je kennenlernen sollte, dann wird der mich kennenlernen! Ich bewundere Dich für Deinen inneren Frieden und spreche Dich hiermit heilig :-) Herzlich! Deine Ildikó
Beitrag 3
Autor: Claudia aus Berlin
Liebe Ildikó,
Verzeihung sei etwas Edles, Großmütiges, so heißt es. Sogar die große Weltliteratur kreist darum. Das mag oft stimmen, weil man sich von einer schweren Last befreien kann, die einen lähmt und keine postivien Gedanken zulässt. Negative Gefühle und Rachegedanken können wie eine Sucht sein und alles was man denkt und tut ist nur noch davon getrieben; das eigene Leben völlig fremdbestimmt.
Ob ich aber wirklich jedem alles verzeihen kann und möchte? Da bin ich mir nicht so sicher. Ich will mich nur nicht lähmen lassen von der eigenen Rachsucht. Ausschließlich davon angetrieben sein bei allen Entscheidungen, die ich treffe.
Ich will nach vorne schauen und einen Schlußstrich ziehen können.
Verzeihen will und muß ich deshalb aber noch lange nicht jedem alles.
Kommentar von Ildikó von Kürthy
Liebe Claudia,
so empfinde ich es auch. Rachsucht ist lähmend - aber nicht verzeihen kann konsequent sein und das eigene Format und die iegnen Grenzen deutlich machen.
Herzlichen Dank für Deinen Text und herzliche Grüße nach Berlin!
Ildikó
Beitrag 4
Autor: Andreas S.
Ich träume gerade, was ich in jungen Jahren träumte, ich wäre reich und würde mit einem eleganten Jaguar und seiner chromglänzenden Kühlerhaubenfigur durch ein schmiedeeisernes Tor die lange Auffahrt langsam zu meinem Herrenhaus hochfahren und unter den Reifen höre ich den Kies knirschen. Ach ja, vor dem Haus ist dann eine kreisrunde Schleife zum Parken direkt vor der imposanten Eingangstreppe, rechts und links rote Kletterrosen und hinter dem Haus hätte ich gern einen Wintergarten, so im historischen Gewächshausstil mit vielen Pflanzen und einem Schaukelstuhl zum Bücher lesen.
... die Realität holt mich ein, etwas müde von der Arbeit und der Autofahrt bin ich nun in meiner Straße angekommen und parke meine schwere alte Limousine vor den Mülltonnen. Hey liebe Nachbarn, Danke, daß der Parkplatz meistens für mich frei ist. Es freut mich wirklich sehr, schließlich bin ich ja auch sowas wie der inoffizielle Mülltonnen-Beauftragter, der immer pflichtbewusst die Tonnen zur Leerung auf die Straße stellt. Und ich bin der Einzige, der richtig durchblickt bei dem Abfallkalender mit den Terminen. Aber ich habe wohl noch einen Helfer, denn nach der Leerung stehen die Mülltonnen oft wieder in Reih und Glied, einfach super wie die Sache läuft.
Man hat eine Vorstellung vom Leben, manches tritt ein und manches läuft anders wie erhofft, jedes Thema im Leben scheint verwoben mit anderen Themen, so auch das Verzeihen. Natürlich kann ich nur aus meinen Erfahrungen schildern, über dieses alltägliches Leid und Unrecht, daß jeder mehr oder weniger im Leben erfährt, das Leben als bunter Strauß Blumen mit Dornen dran.
Jedem dem Schlimmeres widerfahren ist, gilt mein Mitgefühl.
Die Emotionen, die im Vorzimmer des Verzeihens stehen, sind uns auch aus anderen zwischenmenschlichen Schwierigkeiten wohlbekannt, ich spreche von Wut, Hass, Zorn, Angst, Groll, Unsicherheit, Verzweiflung, Missmut und dergleichen. Oh, wie oft haben mich diese finsteren Begleiter meines Geistes um die Ruhe gebracht, wie oft innerlich aufgewühlt, den Schlaf und Lebenszeit geraubt.
Den Bauch voll Wut und Zorn, dem Glück so fern. Also wieder einmal Ärger, was wähle ich …Unterwerfung, Kampf oder Flucht ? Meist entscheide ich mich für den Kampf, aber nicht wie ein Ritter mit Schwert und Rüstung. Ich fixiere die Gefühle bzw. menschlichen Störenfriede mit Atemübungen, mit Konzentration treibe ich diese Unholde vor mir her. Manchmal dauert es monatelang, aber ich gewinne immer. Ich weiß, einmal kommt dieser Atemzug, wo plötzlich die Stille einkehrt, wie nach einem Sturm, wenn der Himmel aufreißt und die Sonne alles erhellt. Oft frage ich mich dann, warum habe ich mich da eigentlich so reingesteigert. Man kann auch erstmal heimlich einem verzeihen, ohne es zu sagen, wobei dann durch subtile, nonverbale Botschaften sich die Beziehung möglicherweise verbessert. Man braucht nach dem Verzeihen ja auch nicht auf Freundschaft oder Kumpel machen. Denn so eine, manchmal über viele Jahre gepflegte Hassbeziehung ist mir dann auf Dauer doch zu innig. Fast so intensiv wie in einer Liebesbeziehung, nur am anderen Ende der Gefühlsskala. Selbst wenn dieser Täter des Unrechts bildlich geschrieben, in einem feuchten dunklen Kerker angekettet an rostige Eisenketten bei Wasser und Brot seine Strafe verbüßen müßte, wären da immer noch die unguten Gefühle, die man auf irgendeine Weise in ein Lot bringen muss.
Abgesehen von ganz schlimmen Dingen, ist meistens nie etwas so schlecht, daß es nicht für was gut ist. Einmal hatte ich ziemlich Stress mit einer Mitbewohnerin in einem Haus, aufgrund der Streitereien sind wir dann ausgezogen (…. also diesmal Flucht), und haben noch vor der aktuellen Wohnungsnot eine viel schönere Wohnung mit netten Nachbarn gefunden. Fast schon amüsiert, kann ich heute dieser Frau verzeihen, vielmehr sogar dankbar sein, denn ohne Sie wären wir so schnell nicht umgezogen. Vergebung ist die ultimative Waffe, negative Emotionen hinfort zu fegen, und Platz zu schaffen, für Lebensfreude, Zuversicht, Gelassenheit, Geborgenheit, Entspannung, Wärme, Liebe, Spaß. Steige ich also auf der Treppe der Achtsamkeit empor aus dem Keller der dunklen Gefühle. Ich nehme die erste, kleine Stufe, … und wie ? Was war heute schön ? Etwa nichts ? Oder gab es da doch diesen kleinen Vogel vor deiner Haustür, der Körner gepickt hat, oder die frische Luft beim Öffnen der Fenster. Schau im Rasen die Gänseblümchen an, freue Dich beim Duschen über das warme Wasser oder den vollen Kühlschrank. Oder ich wecke schöne Erinnerungen, wie wir an einem heißen Sommerabend, auf der verlassenen Strandliege aneinander geschmiegt waren und unsere Füße mit dem noch warmen Sand spielten, statt teurem Wein im edlen Restaurant, tranken wir eiskaltes Dosenbier vom Supermarkt. Der Vollmond warf seinen Schweif auf das Wasser, leise rauschte das Meer und aus einem Hotelgarten klang das Lied von den Eagles „Hotel California“. Die Strophe darin: „We are all just prisoners here, of our own device“ erinnert mich immer wieder daran, mich nicht für das Materielle zu sehr zu versklaven, und das selbstauferlegte Joch aus überflüssigen Bedürfnissen abzustreifen.
In solchen Momenten der Entspannung, der Güte, wenn man die ganze Welt umarmen möchte, versuche ich auch ein wenig Verzeihung einströmen zu lassen. Reinen Tisch zu machen mit der Vergangenheit und Unvollständiges, Streit und Unschönes abzustreifen. Die Uhren zurück drehen und mich fortan der Schönheit der Welt zu widmen. Es warten noch viele schöne Dinge auf einen, vielleicht einmal die Nordlichter sehen, oder an der Südküste der Algarve den Sternenhimmel betrachten. Aber ich will auch den Mond bewundern, der mir vom Strand in Rhodos nach Hause gefolgt ist und der uns auch im Alltag ein Licht in der Nacht sein möchte.
Kommentar von Ildikó von Kürthy
Lieber Andreas!
Wie schön wieder von Dir zu lesen, und wie bereichernd es immer ist, Deinen Gedanken zu folgen. Ich finde es ganz besonders hilfreich sich zu erinnern, so wie Du es in Deinen Zeilen tust, dass Verzeihen ein Prozess ist und dass die vielen negativen Gefühle im Vorfeld durchlebt werden wollen. Dass man aber nicht in ihn verhaftet bleiben muss.
Und Deine Hommage an die Dankbarkeit für Alltäglichkeiten ist in dieser Zeit des Krieges wichtiger und wohltuender denn je.
Auch dafür herzlichen Dank!
Deine Ildikó